II. Lungenschädigende KampfstoffeIII. Blut- und nervenschädigende Kampfstoffe
Kampfstoffverletzungen
A. Kampfstoffe
II. Lungenschädigende Kampfstoffe

5. Beurteilung des Ausgangs.

34.

Auch anfänglich leicht erscheinende Fälle können tödlich enden, schwere verhältnis-mäßig schnell heilen. Daher im Anfang große Vorsicht in der Beurteilung des Aus-gangs der Kampfstoffverletzung.

35.

Die Mehrzahl der Kampfstoffverletzungen läßt sich aber bald in schwere, mittlere und leichte Fälle sondern. Die Gefahr der Herzschwäche muß noch einige Zeit, auch nach Abheilen der örtlichen Lungenerscheinungen, beachtet werden.

6. Nachkrankheiten.

36.

Die Nachkrankheiten sind wechselvoll und beruhen meist auf anatomischen Verände-rungen der Lunge (Bronchiolitis obliterans kann beobachtet werden). Besondere Be-obachtung erfordern Herz und Niere. Bronchitische und asthmatische Zustände sind am häufigsten. Die Mehrzahl der Fälle heilt ohne nachteilige Folgen aus; besonders die leichten Formen, die im Laufe weniger Tage zu einer klinischen Genesung geführt haben. Erhöhte Empfindlichkeit für Tuberkulose besteht nach überstandener Kampf-stoffverletzung nicht.

7. Behandlung.

37.

Unschädlichmachen des eingeatmeten Kampfstoffes durch chemische Mittel ist nicht möglich. Die Behandlung kann sich also nur auf die Krankheitserscheinungen erstrek-ken und sich richten gegen:

  a) die Reizwirkung an den Schleinhäuten,
  b) die unmittelbare Schädigung des Lungegewebes (Lungenödem),
  c)

die mittelbaren Folgen der Kampfstoffschädigung, insbesondere für die Atmung, den Kreislauf und die Blutzusammensetzung,

  d) anschließende Infektionen und Nachkrankheiten.
38.

Die körperliche Untersuchung sichtlich Erkrankter ist auf das äußerste zu beschrän-ken. Aus dem Verhalten des Pulses, dem Grad der Blausucht und der Atemnot sowie dem Auswurf läßt sich ohne Belästigung und Gefährdung des Kranken ein hinreichen-des Bild über die Schwere des Zustandes gewinnen. In schweren Fällen, die beson-ders beobachtungs- und behandlungsbedürftig sind, ist der Spannungszustand des Augapfels gering, weiterhin wird Druck auf die Lebergegend als schmerzhaft em-pfunden.

39.

Bei den Maßnahmen der Behandlung ist das Stadium des ansteigenden Lungenödems von dem Stadium des schwindenden Lungenödems zu trennen. In dem ersten Stadi-um steht bei allen schweren Fällen die Abwendung der unmittelbaren Lebensgefahr im Vordergrung, im zweiten Stadium handelt es sich vornehmlich um die Linderung der Beschwerden des Kampfstoffverletzten.

40.

In dem erstgenannten Stadium besteht eine Schwierigkeit darin, daß auf der einen Stelle das Sauerstoffbedürfnis befriedigt werden muß, auf der anderen Seite jede körperliche Anstrenung – besonders auch jede verstärkte Atmung – den entzündli-chen Prozeß in der Lunge steigert. Von größter Wichtigkeit ist daher vollständige Muskelruhe, und zwar von Anfang an, um die erkrankte Lunge so ruhig wie möglich zu stellen und den Bedarf an Atemluft und den Verbrauch an Sauerstoff klein zu hal-ten.

 

Durch lungenschädigende Kampfstoff Verletzte sind daher grundsätzlich zu tragen oder zu fahren. Auch die Beobachtungsfälle sollen nach Möglichkeit keine größeren Entfernungen zurücklegen.

41.

Notwendig ist stets schnelle, sachgemäße ärztliche Behandlung und geschulte Pfle-ge an einem Ort, an den die Kampfstoffverletzten möglichst rasch und schonend gebracht werden können.

42.

Kleider sind zu wechseln, wenn Kampfstoffe an ihnen haften, um zusätzliche Schä-digungen infolge Verdampfen des Kampfstoffes auszuschließen. Jedoch ist jede Ab-kühlung des Kampfstoffverletzten zu vermeiden, daher namentlich während der Ab-beförderung warm einhüllen (Wolldecken, Wärmflaschen). Die Kleider sind stets im Freien oder in nahe gelegenen Entgiftungsanlagen zu lüften.

43.

Die wichtigste Behandlung, die auch ohne ärtzliche Anordnung durch das Sanitäts-personal durchgeführt werden soll, ist Sauerstoffeinatmung. Die Sauerstoffeinat-mung geschieht durch das Sauerstoffbehandlungsgerät. Durchschnittlich genügen 10 bis 12 Liter je Minute. Bei stärkeren Vergiftungsgraden ist meist eine verhältnis-mäßig lange, unter Umständen stundenlange Sauerstoffzufuhr notwendig. Der Dauer der Sauerstoffzufuhr sind aber oft durch die vorhandenen Vorräte an Sauerstoff Grenzen gesetzt, vor allem, wenn es sich um einen großen Anfall von Kampfstoff-verletzten handelt. Eine ununterbrochene Sauerstoffzufuhr wird meistens nicht möglich sein. Man läßt daher zweckmäßig Sauerstoffatmen, bis die Blausucht ge-schwunden ist, setzt aus, bis sich wieder Sauerstoffbedürfnis einstellt, und läßt in der Zwischenzeit Wasserdampf einatmen oder grugeln, um Austrocknen des Ra-chens und der Kehle zu vermeiden. Die unterbrochene Sauerstoffbeatmung gestat-tet die Behandlung einer größeren Anzahl von Kampfstoffverletzten mit demselben Gerät. Die Sauerstoffbehandlung soll nach Möglichkeit auch während des Transpor-tes der Kampfstoffverletzten durchgeführt werden.

44.

Künstliche Atmung ist – im Gegensatz zur Kohlenoxyd- und Blausäurevergiftung – wegen der Gefahr der Lungenschädigung und Verschlechterung des Zustandbildes auch bei stärkster Atemnot grundsätzlich zu unterlassen. Wenn in Ausnahmefällen bei völligem Atemstillstand künstliche Atmung nicht zu umgehen ist, soll sie nur unter größter Vorsicht auf Anordnung und unter Aufsicht des Arztes durchgeführt werden.

45.

Aus gleichem Grunde ist eine Beatmung mit Sauerstoff unter Druck (Pulmotorgerät) zu unterlassen.

46.

Beatmung mit Sauerstoff unter Zusatz von Kohlensäure ist für Kampfstoffverletzte im Ödemstadium schädlich, weil ihr Körper ohnehin mit Kohlensäure überladen ist.

47.

Zu den auch ohne ärztliche Anordnung durchzuführenden Behandlungen – Ruhigstel-lung (Ziff. 40), Warmhaltung (Ziff. 42), Sauerstoffbeatmung (Ziff. 43) – tritt die ärztliche Behandlung mit Herzmitteln und Aderlaß.

48.

Herzmittel müssen rechtzeitig angewandt werden, ehe Versagen des Herzes auf-tritt, das sich oft plötzlich ohne vorhergehende Warnungszeichen einstellen kann.

 

Als Herzmittel kommt besonders Strophanthin in Betracht. Bewährt hat sich folgen-de Strophanthinbehandlung: Jeder Schwerkranke erhält bei der Einlieferung sofort intravenös ¼ mg des in der Feldsanitätsausrüstung enthaltenen offizinellen g-Sto-phanthins (das auch vielfach verwendete k-Strophan-thin, z.B. Kombetin, wirkt schwächer, übliche Dosis daher ½ mg). Je nach der Schwere der Erkrankung vor-sichtig weitere Gaben bis höchstens zum Vierfachen der genannten Dosis innerhalb von 48 Stunden.

 

Bei drohende Kreislaufschwäche peripher angreifende Gefäßmittel (Sympatol 1 – 2 ccm = 0,06 – 0,12 subkutan oder auch Ephetonin 1 – 2 ccm = 0,05 – 0,1 subktuan) oder Anregungsmittel (Oleum camphoratum forte 5 ccm, in-tramuskulär). Die übrigen zentral wirksamen Analeptica (Cardiazol 1 – 2 ccm = 0,1 – 0,2 oder Cormed 1,5 – 3,0 ccm oder 25%igen Lösung) sind wegen ihrer cerebralen Nebenwirkung nur dann anzuwenden, wenn neben Kreislaufschwäche bereits Lähmung des Atemzentrums droht. Vielfach ist es notwendig, die angegebenen Dosen wiederholt zu verabrei-chen. Steht ärztliche Hilfe nur beschränkt zur Verfügung, z.B. auf Transporten, em-pfiehlt sich die Anwendung von Kampfer als Depot.

 

In der Genesung kann bei labilem Herzen Digitalis genommen werden, z.B. Digipurat.

49.

Als besonders wirksame Maßnahme hat sich der Aderlaß erwiesen. Er muß ausgiebig sein, am besten 550 ccm. Auch bis 800 ccm Blut sind schon mit Erfolg entnommen worden.

 

Er muß frühzeitig vorgenommen werden, weil es auf der Höhe des Lungenödems bei der starken Gerinnungsfähigkeit des Blutes meist nicht gelingt, größere Blutmengen zu entnehmen. Außerdem besteht bei fortgeschrittenem Lungenödem Kollapsgefahr.

 

Der Aderlaß ist also nur angezeigt bei geregelter Herztätigkeit (im Stadium der Blau-sucht). In den weniger häufigen Fällen mit fahlgrauer Verfärbung der Haut (s. Ziff. 23) ist der Aderlaß grundsätzlich zu unterlassen.

50.

Man führt den Aderlaß zweckmäßig etwa 20 Minuten nach einer Herzmitteleinsprit-zung als Venaesectio aus. In manchen Fällen wird Blutentnahme aus der Speichen-schlagader notwendig sein, die nachher abgebunden wird.

51.

Bei Massenzugängen und Überlastung der Ärzte ist an Stelle des Aderlasses mit Er-folg die Schwitzbehandlung angewandt worden. Diese soll frühzeitig ensetzen.

 

(Die Kampfstoffverletzten kommen in ein vorgewärmtes Bett, erhalten mehrere Wärmflaschen oder mit heißem Wasser gefüllte tönerne Selterwasserkruken zur Sei-te und werden mit Decken eingehüllt. Verabreichung von Acetylsalicylsäure und heißem Tee ist zweckmäßig. Das Schwitzen soll 2 – 3 Stunden dauern. Die Herztä-tigkeit ist zu überwachen !)

52.

Brustwickel, Pireßnitzumschläge, auch Senfumschläge sind bisweilen günstig. Hierbei müssen aber stärkere Bewegungen des Kampfstoffverletzten vermieden werden.

53.

Heftige Schmerzen in den Luftwegen werden durch Einatmung von Wasserdampf gemildert. Aufstellen von Bronchitiskesseln zweckmäßig ! Reizmildernd wirken auch Zusätze von Terpentinöl und Menthol.

54.

Quälender Hustenreiz kann mit Codein oder dergleichen bekämpft werden.

55.

Vor Ausbildung der schweren Atemnot kann Beruhigung durch Verabfolgung von Schlafmitteln erfolgen, z.B. Adalin, Bromural. Ungeeignet sind langwirkende Mittel wie Diäthylbarbitursäure, Luminal.

56.

Beruhigung erzielt man in den meisten Fällen bereits durch die Sauerstoffbeatmung.

 

Zur Bekämpfung der heftigen für das Allgemeinbefinden schädlichen Unruhe oder bei Schmerzen kann auch Morphin oder Eukodal in vorsichtigster Dosierung, 0,005, nöti-genfalls etwa nach 1 Stunde wiederholt, eingespritzt werden. Kollaps oder herabge-setzte Atmung sind Gegenanzeigen. Höhere Gaben als 0,005 sind gefährlich, deshalb nur die hierfür eingeführte Ampulle mit 0,005 Morphin oder Eukodal verwenden !

57.

Im Stadium des entstehenden Lungenödems können Einspritzungen von Kalziumglu-konat versucht werden. Man gibt Kalziumglukonat 10%ig 10 ccm oder 20%ig 5 ccm intramuskulär.

58.

In vielen Fällen scheint Traubenzuckerlösung (25% ig) bei intravenöser Einspritzung wirksam gewesen zu sein. Man kann auch mehrfach bis zu 50 ccm geben.

59.

Expektorantien sind im Ödemstadium nicht erforderlich. Bei der Bronchitis leichterer Fälle und in der Rekonvaleszenz eignet sich bei zähem Auswurf Jodkali, Mixtura sol-vens oder Ipecacuanha.

60.

Der brennende Durst der Kranken kann durch einwandfreies, kühles Wasser, auch mit Zusatz von etwas Rum, Weinbrand oder Wein, gestillt werden. Auch Kaffee oder Tee, Milch und Fruchtsäfte sind erlaubt. Alkohol in größeren Mengen schadet.

61.

Sofern im Ödemstadium überhaupt Bedürfnis nach Nahrung besteht, kommt nur flüs-sige Form in Frage (Fleichbrühe, Eiweißwasser, geschlagenes Ei mit Weinbrand und Zucker, säuerliches Kompott und Milchsuppen). Reichliche Mahlzeiten sind in diesem Stadium lebensgefährlich. Krümenge Nahrungsmittel reizen zum Husten und sind da-her zu vermeiden.

62.

Bei drohender Lungenentzündung (Bronchopneumonie) Anwendung von Sulfonamid-präperaten (Eubasinum oder Eleudron, vgl. Sulfonamidmerkblatt). Auch Solvochin kann verabfolgt werden.

63.

In der Rekonvaleszenz bedürfen die Kranken weitgehender Schonung. Vorsichtige Atemübungen, allmähliche Arbeitsgewöhnung.

64. Rauchen ist den Kranken und Genesenden streng zu verbieten.

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